Jeder Tag ist wertvoll
Am 2. Mai 2020 wurden meine Zwillinge geboren. Es war die 25+6 Schwangerschaftswoche. Vico wog 960 Gramm, Luna gerade einmal 890 Gramm.
Die Schwangerschaft stand schon unter keinem guten Stern. Alle sagen, in den ersten 12 Wochen kann viel passieren – bei mir jedoch ging es mit Komplikationen in der 13. Woche los. Ich verbrachte einige Tage im Krankenhaus und durfte dann wieder nach Hause. Zu Beginn der 22. Woche wurde mir eine Cerclage gelegt, damit die Kleinen nicht zu früh kommen. Diese kleine OP war, im Nachhinein betrachtet, recht unspektakulär und verlief gut. Dadurch gewannen wir wertvolle und lebensrettende viereinhalb Wochen Zeit, bis ich ganz plötzlich Bauchschmerzen bekam. Mein Frauenarzt ließ mich wegen vorzeitiger Wehen sofort ins Krankenhaus bringen, dort bekam ich Wehenhemmer und eine Lungenreifespritze. Als sich nach zwei Tagen die Herztöne meiner Tochter verschlechterten, führten die Ärzte einen Kaiserschnitt mitten in der Nacht durch, um meine Zwillinge auf die Welt zu bringen.
Erst 12 Stunden später konnte ich sie sehen. Sie waren nach der Geburt sofort intensivmedizinisch betreut worden. Als ich sie das erste Mal besuchen durfte, lagen sie in einem wärmenden Inkubator. Ihre Haut kam mir so dünn, fast durchscheinend vor. Ich legte meine Hand auf sie, um zu zeigen, dass ich bei ihnen war. Diesen Moment werde ich nie vergessen.
Die nächsten Wochen verbrachte ich jeden Tag auf der Neonatologie am Universitätsklinikum Leipzig. Ich fuhr vormittags in die Klinik, blieb bei meinen Kindern und kehrte erst abends zurück in meine Wohnung. Ich pumpte Milch ab, absolvierte Arzttermine und ließ meine Kinder an medizinischen Studien teilnehmen. Im Rückblick merke ich, wie ich damals vollends mein Zeitgefühl verloren hatte. Für jeden Tag, der ohne aufwühlende Nachricht verging, war ich dankbar. Bis es bei meiner Tochter plötzlich zu Komplikationen kam. Ich fuhr nach dem nächtlichen Anruf sofort mit meiner Mutter ins Krankenhaus, um bei Luna zu sein, auch wenn ich nicht viel machen konnte. Ich fühlte mich wie in einem Film, lief den Gang der Station auf und ab und musste schicksalsergeben auf die Nachricht der Ärzte warten. Nach 16 langen Stunden hatten wir den Kampf Anfang Juni verloren.
Auf der Station gibt es den Raum der Stille. Dort können sich Eltern von ihren verstorbenen Kindern verabschieden. Obwohl verabschieden für mich nicht das richtige Wort ist. Ich blieb 48 Stunden dort. Für mich war es eher ein Hergeben.
Ab diesem Zeitpunkt blieb ich auch nachts bei Vico. Ich wollte einfach bei ihm sein. Mittlerweile sind wir zu Hause. Er macht mir viel Freude, entwickelt sich gut und wir genießen unsere Zeit miteinander, immer mit Luna in Gedanken. Ich habe in meinem Wohnzimmer eine Erinnerungsecke eingerichtet und besuche häufig ihr Grab. Ich bin dankbar, dass ich meine Eltern habe, die mich, da ich alleinerziehend bin, viel unterstützen und immer ein offenes Ohr für mich haben. An manchen Tagen bin ich voller Freude und Elan, an anderen Tagen fühle ich mich einsam und leer.
Die Monate auf der Neonatologie – so schwer sie waren – habe ich trotz allem auch als schöne Zeit in Erinnerung. Ich bekam die Entwicklung der Kleinen mit, war beim Füttern und Baden dabei und machte beim so wichtigen Känguruhen mit. Dabei lagen Vico und Luna nur mit einer Windel bekleidet auf meinem freien Oberkörper. Wir konnten unseren Herzschlag spüren, uns riechen und uns Wärme spenden. Ich legte die Angst ab, meine Kinder beim Anfassen zu verletzen. Ich lernte auch Eltern in der gleichen Situation kennen. Eine Mutter von der Station wurde zu einer Freundin. Die Fürsorge und Unterstützung der Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger sowie dem psychologischen Team und der Elternberatung war immens. An viele Dinge, wie zum Beispiel Anträge oder finanzielle Unterstützung, denkt man in solchen Situationen nicht, aber das Leben verlangt, dass es weitergeht und genau deshalb ist es auch so wichtig, dass man in dieser Lage dabei Unterstützung erhält. Auch die kleinen Aufmerksamkeiten von den Vereinen, wie zum Beispiel den Minilöwen, wie in Form von gestrickten Söckchen oder Karten, haben mir in der Zeit unglaublich gutgetan. Aber auch den Sternefotografen möchte ich noch positiv erwähnen, denn auch daran denkt man nicht, wenn man plötzlich in eine solche Situation gedrückt wird.
Manchmal bin ich traurig, dass ich keine normale Schwangerschaft erleben durfte. Ich habe keine Babybauchfotos und nur ein unvollendetes Schwangerschaftstagebuch. Grundlegend wünschte ich mir, werdende Mütter und Väter würden mehr darauf vorbereitet werden, dass es auch zu Komplikationen jeder Art oder einer Frühgeburt kommen kann.
Die Frage nach dem Warum wird mich den Rest meines Lebens begleiten und ich weiß, dass ich nie eine Antwort auf alles bekommen werde. Aber ich weiß, dass ich seit dieser Erfahrung die Welt mit anderen Augen sehe und auch zufriedener mit den kleinen Dingen im Leben bin. Es zählt nur das Jetzt und jeder Tag mit meinem kleinen Mann, der das Wertvollste ist, was ich habe.